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Handout 01: Darf man noch „Indianer“ sagen?
In der Forschung ist der Begriff schon seit längerer Zeit umstritten. Durch aktuelle Debatten um Rassismus und Diskriminierung gerät der Begriff nun zunehmend auch im Alltag unter Kritik. Wir als Museum sind nicht in der Position bestimmte Sprechweisen zu erlauben oder zu verbieten. Mit diesem Handout wollen wir aber interessierte Besucher über die Dimensionen der Debatte informieren und die Hintergründe verschiedener Begriffe erläutern, sodass sich jeder seine eigene Meinung bilden kann.
In der Kulturanthropologie gilt die Grundregel, dass die Wissenschaftler bei der Benennung von kulturellen Gruppen idealerweise deren Eigenbezeichnung übernehmen. In Nordamerika lässt sich diese Regel gelegentlich auf der Ebene des Stammes (auch ein umstrittener Begriff) anwenden, indem man z.B. die Eigenbezeichnung „Diné“ statt der Fremdbezeichnung „Navajo“ für den größten Stamm des Südwestens verwendet. Allerdings entschied sich der Stammesrat 1994 und erneut 2017 bewusst gegen den Vorschlag, das Reservat von „Navajo Nation“ in „Diné Nation“ umzubenennen. Man darf demnach nicht davon ausgehen, dass es immer nur eine Eigenbezeichnung gibt, die alle Mitglieder einer Gruppe akzeptieren.
Eine Ebene höher wird das Problem noch größer. Als die ersten europäischen Entdecker amerikanisches Festland betraten, hatten die Einheimischen dieses Doppelkontinents keine gemeinsame Sammelbezeichnung für sich. In vielen Sprachen bedeutet das Wort für die eigene ethnische Gruppe „die Menschen“, „die echten Menschen“ oder Ähnliches. Das Bedürfnis, für alle vorgefundenen Einwohner Amerikas oder auch nur Nordamerikas eine Sammelbezeichnung zu finden, entstammt allein der Perspektive der europäischen Entdecker, nicht der Einheimischen. Diese Perspektive setzt sich nach der Staatenwerdung der USA in deren kolonialer Verwaltungssprache fort. Natürlich gibt und gab es „die Indianer“ genauso wenig, wie es „die Europäer“ oder „die Asiaten“ gibt. Man kann das Befremden der so Bezeichneten gelegentlich nachempfinden, wenn man von US-Amerikanern hört, etwas sei „typisch europäisch“. Es gibt aber unbestreitbar den Bedarf, eine Gruppe von Menschen mit gemeinsamer Geschichte mit einem Sammelbegriff zu bezeichnen. In Ermangelung einer allgemein akzeptierten Eigenbezeichnung, kann man aber nur auf Fremdbezeichnungen zurückgreifen.
Der Begriff „Indianer“ leitet sich vom Land Indien ab, für das Kolumbus die „Neue Welt“ bis zu seinem Tod gehalten hat. Während es auf Deutsch eine sprachliche Unterscheidung zwischen „Inder“ und „Indianer“ gibt, ist die englische Bezeichnung „Indian“ zweideutig. Die Präzisierung „American Indian“ oder kurz „Amerindian“ löst zwar das Problem der Zweideutigkeit, erreicht dies aber nur durch den Kolonisten-Begriff „Amerika“, der auf einen italienischen Seefahrer zurückgeht und selbst unter den Euroamerikanern jahrhundertelang nicht allgemein akzeptiert war. Statt „Amerika“ hätte sich auch „Columbia“ durchsetzen können. Neuere Begriffe wie „Native American“ oder „Indigenous American“ (gebürtiger/eingeborener Amerikaner) kommen ohne die Referenz zum fernen Indien aus, haben aber ihre eigenen Probleme. Unter einem „American“ versteht man in der englischen Umgangssprache nämlich weniger einen Bewohner des Doppelkontinents als einen Staatsbürger der USA. Die meisten Staaten der „Neuen Welt“ gewähren Staatsbürgerschaft per Geburt. Nach dieser Lesart wären alle in den USA geborenen Menschen „native Americans“, Afroamerikaner in den Südstaaten allerdings erst seit 1868 und Indianer erst seit 1924 (Indian Citizenship Act). Die Unterscheidung zwischen „Eingeborenen“ und „Nicht-Eingeborenen“ war zur Zeit der ersten europäischen Besiedlung des Doppelkontinents (nach Leif Erikson) sicherlich angemessen, führt aber fünf Jahrhunderte später zu realitätsfernen Einteilungen. Im 19. Jh. z.B. waren die seit Generationen ansässigen Nachfahren englischer Siedler sehr darauf bedacht, sich von den neu ankommenden Deutschen, Italienern und Iren abzugrenzen. Die Nachfahren dieser Neuankömmlinge empfinden sich heute als die „eigentlichen Amerikaner“ in Abgrenzung zu Einwanderern aus Lateinamerika oder Asien. Einen späten Nachfahren der Pilgerväter, eine Tochter eines 1979 eingewanderten Persers und einen gestern aus Mexiko eingewanderten Maya zusammen in die Gruppe der Nicht-Eingeborenen zu fassen, widerspricht mitunter der gefühlten Lebensrealität der betroffenen Menschen.
Fragen Sie sich einmal selbst, ob Sie sich als indigen deutsch oder indigen europäisch bezeichnen würden. In welchem Jahr oder bei welcher Generation ziehen Sie die Grenze?
Ebenso problematisch ist die Vorstellung von Ureinwohnern oder der Urheimat eines Volkes oder Stamms. Nach dem Versinken der Beringstraße im Pazifik am Ende der letzten Eiszeit war der amerikanische Doppelkontinent für Jahrtausende eine Insel mit isolierter Bevölkerung. Diese Bevölkerung ist im Laufe der Zeit jedoch massiv angewachsen und hat sich ausdifferenziert. Teile von ihr sind von einer Klimazone in die nächste gewandert, haben sich gegenseitig bekriegt und vertrieben, so dass die Vorstellung einer durchgängigen Besiedlung an einem Ort seit „Urzeiten“ unzutreffend ist.
Die kanadische Regierung verwendet den Begriff „First Nations“ um die von ihr kolonisierten Völker zu bezeichnen. Ob der eurozentrische Begriff der Nation jedoch geeignet ist, um der Lebensart und dem Selbstverständnis dieser Menschen gerecht zu werden, vor allem im historischen Rückblick, ist zu bezweifeln.
Das Wort „Indian“ ist zweifellos eine Fremdbezeichnung der euro-amerikanischen Kolonisatoren, wie man an den Namen von Gesetzen und Reservaten oder dem Namen „Bureau of indian affairs“ (Bundesbehörde für Indianer-Angelegenheiten) erkennt. Es steht damit im Zusammenhang mit einer leidvollen Erfahrung der Unterdrückung. Wie sich ein Wort anfühlt, hängt leider auch damit zusammen, wer es ausspricht und wem gegenüber. Das Wort „Indian“ ist jedoch kein rassistisches Schimpfwort wie etwa „Nigger“, die spöttische Fehlaussprache „Injun“ hingegen schon, „Redskin“ sowieso. Analog zu anderen Bürgerrechts-Strömungen diskriminierter Minderheiten gibt es im indianischen Aktivismus eine Vereinnahmung des Wortes als Selbstbezeichnung, im Internet auch abgekürzt als „NDN“. Gleichzeitig gibt es Betroffene, die das Wort ablehnen.
Der deutsche Begriff „Indianer“ (Nord-/Süd-Amerikas) ist mit den Begriffen „Afrikaner“, „Europäer“ oder „Asiate“ vergleichbar. Es handelt sich um Fremdbezeichnungen und um starke Verallgemeinerungen, die je nach Kontext sinnvoll oder nicht sinnvoll sind. Es handelt sich bei „Indianer“ weder um eine bedeutungsgleiche Übersetzung des englischen Wortes „Indian“, noch besteht in Deutschland das gleiche koloniale Erbe wie in den USA und Kanada. Da eine allgemein akzeptierte Eigenbezeichnung fehlt, lässt sich aus Sicht der Wissenschaft keine bessere Bezeichnung für die Menschen finden, die hier als die „Indianer Nordamerikas“ zusammengefasst werden.