Märchen - nur etwas für Kinder?
[...]Ursprünglich wurden Märchen von Erwachsenen für Erwachsene erzählt, es heißt - in den Spinnstuben. Aber warum werden sie heute dann eher den Kindern erzählt? Und warum verstehen Erwachsene die Botschaft dieser geheimnisvollen Berichte nicht mehr?
Um Antworten auf diese Fragen zu bekommen, musst Du Dir zu aller erst bewusst machen, dass Märchen Mythen sind. Sie erzählen in verschlüsselter Form von einer uralten Zeit, und, obwohl sie von jeder Generation verändert weitergegeben wurden, hat sich in ihnen ein unterbewusstes Weltbild bis heute erhalten. Ich glaube, es ist das Weltbild, das am ursprünglichsten ist und am ehesten der menschlichen Natur entspricht. Es ist frei von komplizierten Gedankengebäuden und es folgt auch dem Rhythmus der äußeren Natur. Es ist die, den Menschen maximal mögliche Freiheit. Märchen sind Berichte aus einer glücklichen Zeit.
Mythen sind religiöse Texte. Doch was haben unsere Märchen mit der Religion zu tun, die in Europa vorherrscht? Nannten die Zwerge Schneewittchens Stiefmutter nicht eine 'gottlose Königin'? Betet Gretel nicht das Stossgebet: 'Ach lieber Gott, hätten uns doch die wilden Tiere im Walde gefressen.' Warum erzählt dann der/die Pfarrer/in in der Kirche keine Märchen --- oder doch?
Solche Textstellen sind natürlich nachträgliche Hinzufügungen der Gebrüder Grimm. Sie haben sowieso die Märchen in einer Weise geändert, dass sie Kindern 'vorlesbar' werden sollten. So wird unseren Kindern z.B. nicht verraten, dass Rapunzel im Turm geschwängert wurde. Aber plötzlich bekommt sie, einfach so, Zwillinge! Genau wie Maria, die unbefleckt-empfangen-Habende. Doch der Urtext enthält diese Information noch, da steht:
[align=center]'So lebten sie lustig und in Freuden geraume Zeit, und die Fee kam nicht dahinter, bis eines Tages das Rapunzel anfing und zu ihr sagte: 'Sag sie mir doch Frau Gotel, meine Kleiderchen werden mir so eng und wollen nicht mehr passen.' [/align]
Wenn Du genau gelesen hast, ist Dir sicher der Name Frau Gotel aufgefallen. Und Frau Holle kennst Du auch. Frau Gotel regiert hoch oben, im Märchen ist es ein Turm; Frau Holle tief unten: die Marie steigt zu ihr hinab durch den Brunnen, und kommt, oh Wunder, oben auf einer Blumenwiese an.
Die Orte des Geschehens sind genauso wenig ein Zufall, wie die Namensähnlichkeiten Gotel/Gott und Holle/Hölle. Der christliche Gott ist aber ein Mann: Gottvater. Er hat einen Sohn und einen heiligen Geist, was auch immer das ist. Es hat sich also irgendwann eine Wende vollzogen, die aus einer Göttin einen Gott machte und aus Töchtern Söhne. Doch die Geschichten als solche leben weiter.
Unsere Märchen sind renitent, sie erzählen unerhörte Dinge. Deshalb mussten sie als Kindermärchen verharmlost werden. Einerseits, um nicht mehr als Mythen erkannt zu werden, damit sie der neuen Religion, der neuen Macht, mit ihren asiatischen Mythen keine Konkurrenz mehr machten. Andererseits war die Verschlüsselung ein Schutz der alten Natur-Religion, die im Untergrund noch lange fortlebte...
...und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute:
Aus dem Kind, das ich mal war, wurde eine kritisch denkende Frau. Das Wort Hexe bekam eine völlig neue Bedeutung und die Beschäftigung mit Mythen gelangte auf diese neue Ebene, die es mir ermöglichte den positiven, weiblichen Anteil herauszufiltern. [
Quelle]
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