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    Das große Los von Joris Mertens






    1975. Großstadtambiente. Möglicherweise Paris. Stau. Stockenderer Verkehr. Grelles Licht. Regen. Ununterbrochen. Eine triste Atmosphäre. Mittendrin François. Ohne Schirm. Nass bis auf die Knochen. Das Leben hat es nicht sonderlich gut gemeint mit ihm. Er ist ein liebenswerter Mensch, geschätzt von seinen Mitmenschen. Aber er ist einsam. Ein Tag ist wie der andere. Morgens und abends in seiner Stammkneipe, dazwischen die Arbeit als Auslieferungsfahrer einer Wäscherei. Ansonsten bleiben nur das Fernsehprogramm und ein gelegentlicher Kinobesuch - alleine. Seine sozialen Kontakte beschränken sich auf die Kollegen, auf ein paar andere Stammgäste und auf die attraktive Maryvonne, bei der er wöchentlich seinen Lottoschein abgibt. Was von seinen Erwartungen, Hoffnungen, Zielen geblieben ist, fokussiert sich auf eine einzige Sache. Geblieben ist ihm nur der Traum vom großen Gewinn. Er ist sich sicher, dass seine Zahlen irgendwann gezogen werden. Diese Zahlen! Eine Kombination aus - natürlich - seinem Geburtsdatum und einem anderen Tag, der eine besondere Bedeutung hat für ihn. Welches Ereignis damit verbunden ist, verrät viel über ihn, fast alles. Er selbst macht sich keine Illusionen. Die Rente ist in Sichtweite. Der Geschäftsführer der Wäscherei hat den tumben Neffen der Chefin einstellen müssen und schwadroniert davon, dass der Betrieb schlecht läuft, ein Konkurrenzunternehmen den Markt zu übernehmen droht und eine Gehaltserhöhung daher nicht drin sei. Stattdessen soll er den Neffen einarbeiten. François ahnt, dass das Unternehmen anschließend keine Verwendung für ihn haben wird. Er hat innerlich resigniert, arbeitet einfach weiter und macht, was von ihm erwartet wird. Und dann, eines Tages, zieht er das große Los, nur anders als erwartet. Überraschend und ohne Vorwarnung bietet sich ihm die Gelegenheit, dass sich alles zum Guten wendet. Aber nichts im Leben ist umsonst. Schon gar nicht für François. Es wird ihn etwas kosten. Er muss sich entscheiden. Zeit zum Überlegen bleibt keine. Wird er die Chance nutzen? Oder ist der Preis zu hoch?



    Man merkt dem Comic an, dass Joris Mertens, der belgische Autor und gleichzeitig Zeichner, Drehbücher verfasst hat. Anleihen beim klassischen französischen Film noir oder poetischen Realismus sind unverkennbar. Die visuelle Umsetzung erinnert an ein Storyboard. Ganze Passagen kommen ohne Text aus. Die Bilder sprechen für sich. Mertens braucht keine Worte, um uns François näher zu bringen. Die ganze Verzweiflung, die Einsamkeit des alten Mannes, die verbliebene Hoffnung auf ein spätes Glück, auf ein Happyend. Wunderbar schon die Anfangssequenz: die trostlose, regnerische Großstadtatmosphäre. Statt Frühstück eine Zigarette vor dem geöffneten Fenster. Die Gewissheit, auf dem Weg zur Arbeit völlig durchnässt zu werden. Das Richten des verbliebenen spärlichen Haupthaares im Spiegelbild einer Schaufensterscheibe. Ein Lächeln. Im nächsten Panel die Auflösung: Maryvonne und der Lottoschein.
    Das Leben von François wird exemplarisch anhand des Ablauf eines einzigen Tages veranschaulicht. Immer wieder unterbrochen durch großflächige Darstellungen der Stadt, in der François wie ein Fisch durch die anonyme Masse schwimmt, selbst im überdimensionierten Kinosaal mit weitem Abstand zu den anderen Besuchern. Ein letztes Bier alleine an der Theke, bevor es zurück geht in die eigene Wohnung, wo niemand auf ihn wartet. Man möchte ihn förmlich in den Arm nehmen, trösten und Mut zusprechen. In einer Szene steht er verzweifelt vor dem Haus, in dem die Angebetete wohnt. Mertens lässt uns für einen kurzen Moment hoffen. Bitte, geh hinein, sprich mit ihr. Aber es ist klar, wie François sich entscheiden wird. Mertens hat ganze Arbeit geleistet. Er hat François so gut charakterisiert, dass die Leser ihn zu kennen glauben. Der Rest spielt sich in der eigenen Vorstellung, der eigenen Phantasie ab. Großartig ist auch das letzte Kapitel, das als einziges einem Mann, nämlich François selbst gewidmet ist. Schon das Ende des vorangegangenen Abschnitts wartete mit einer Überraschung auf. Aber was danach kommt, ist noch einmal ein wunderbarer, fast schon poetischer Abschluss. Wieder gänzlich ohne Worte, die es auch hier nicht braucht.


    Und das übrige Artwork? Die Bilder wirken auf den ersten Blick seltsam unfertig, wie die letzte, schon sehr weit fortgeschrittene Skizze vor dem finalen Strich. Also wie das, was häufig im Anhang gezeigt wird, um den Fortschritt von der ersten Skizze zur endgültigen Fassung zu dokumentieren. Aber genau das ist der Stil von Mertens. Es ist nicht immer alles bis ins letzte Detail ausgezeichnet. Dadurch gewinnen die Zeichnungen aber an Tiefe. Der Blick wird auf das Wesentliche gerichtet, auf die Gefühls- und Gedankenwelt des Protagonisten.


    Fazit:
    Nach meinem Verständnis schon jetzt ein sicherer Platz in den Top 10 des Jahres, ein absolutes Highlight, das sich niemand, der Comics liebt, entgehen lassen sollte. Völlig zurecht wird Mertens als der neue Stern am Firmament gefeiert. Ich feiere jedenfalls mit und freue mich schon auf sein nächstes Werk. Splitter hat für September 2023 "Beatrice" angekündigt.


    Nachtrag:
    Mittlerweile ist „Beatrice“ erschienen:
    https://www.comicforum.de/showthread...-Joris-Mertens

    Geändert von Zardoz (26.08.2023 um 14:13 Uhr)

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