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    Mitglied Avatar von Zardoz
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    1629 … oder die erschreckende Geschichte der Schiffbrüchigen der Jakarta





    Warum nur habe ich die Vorzugsausgabe erworben? Eine Frage, die gar nicht so leicht zu beantworten ist. Man muss wissen, dass mir die Sonderdrucke , die üblicherweise den Unterschied zur „Normalausgabe“ machen, nicht viel geben. Für mich, der sie nicht sammelt, säuberlich in Klarsichtfolie aufbewahrt und liebevoll in einem gesonderten Ordner abheftet, sind sie nicht mehr als ein Stück bedrucktes Papier von mehr oder weniger zweifelhafter Qualität, etwas, mit dem Künstler und Verlage ein kleines Zubrot verdienen. Was ist es dann? Die Sonderseiten mit Skizzen aus dem Entstehungsprozess? Nicht wirklich. Nett anzusehen, rechtfertigen aber nicht die Preisdifferenz. Vielleicht der Hinweis auf die Limitierung, wodurch der Eindruck erweckt wird, etwas Besonderes, Seltenes, möglicherweise Wertbeständiges in der Hand zu halten? Schon eher. Aber bei 666 Exemplaren dürfte das Marktinteresse auch dann noch gedeckt sein, wenn die nächste Generation auf einen Platz im Altersheim wartet. Im Ergebnis war es wohl eine Gemengelage aus dem diffusen Gefühl, etwas „zu verpassen“ und der Hoffnung, mit dem neuen Werk des von mir sehr geschätzten Autors Dorison sowie des hervorragenden Zeichners Montaigne, dessen Stil ich einfach mag, tatsächlich etwas zu besitzen, das aus der Masse des Alltäglichen herausragt. Also eine sehr individuelle Entscheidung, basierend auf dem bisherigen Eindruck, den ich von den beiden Künstlern gewonnen habe. Dorison dürfte der hiesigen Fangemeinde ein Begriff sein. Er steht für spannende, faszinierende Abenteuergeschichten wie Aristophania, Asgard oder Heiligtum (alle bei Splitter erschienen), die ich förmlich verschlungen habe. Großartig auch „Long John Silver“ (als GA bei Carlsen erhältlich). Montaigne hat mich in der Fortsetzung vom „Prinz der Nacht“ überzeugt.



    Damit kommen wir zur entscheidenden Frage: hat es sich wirklich gelohnt oder liegt ein klassischen Fall enttäuschter Erwartungen vor? Um es vorwegzunehmen: ich werde mir auch die Fortsetzung der auf zwei Bände angelegten Geschichte als VZA gönnen.


    Dorison legt die tatsächlichen Ereignisse um die „Batavia“ zugrunde, einem niederländischen Ostindienfahrer, bewertet und interpretiert diese aber neu und erschafft somit ein eigenständiges Werk, eine neue Form der „Wahrheit“. So heißt sein Schiff nicht mehr Batavia. Er hat es bewusst umbenannt in „Jakarta“. Dorison schafft damit eine quasi universelle, zeitlose Ebene, transportiert die Psychologie der Massen in unsere Vorstellungswelt. Die immer wiederkehrenden Verhaltensmuster lassen sich mühelos in unterschiedlichste, historische Episoden einordnen und taugen gleichzeitig zur Erklärung aktueller Prozesse. Warum erdulden Menschen schier unerträgliche Qualen? Aus welchem Grund rebellieren sie nicht, begehren sie nicht auf, akzeptieren stattdessen immer neue Erniedrigungen, nehmen letztendlich den eigenen Tod widerspruchslos hin? Ab wann kommt der Punkt, in dem die lethargisch anmutende Verhaltensweise umschlägt in eigene Barberei? Der Mensch „im Grunde (doch nicht) gut“? Wem das zu intellektuell, zu verkopft erscheint, der sollte sich nicht abschrecken lassen. Es bleibt eine sehr spannende Erzählung, mit einigen Wendungen, einem Schachspiel ähnelnd.


    Zum historischen Hintergrund: Batavia war 1619 bis 1799 das Hauptquartier der Niederländischen Ostindien-Kompanie, der VOC, und bis in die 1940er Jahre die Hauptstadt Niederländisch-Indiens. Nach der Unabhängigkeit Indonesiens trägt sie als dessen Hauptstadt den Namen Jakarta. Die VOC war die mächtigste Handelsorganisation der damaligen Welt, vom niederländischen Staat ausgestattet mit Handelsmonopolen und Hoheitsrechten in Landerwerb, Kriegsführung und Festungsbau (Quelle: Wikipedia)!


    Dorison beschreibt die VOC als Ausbund einer urkapitalistischen Unternehmung. Es zählen nur die Interessen der Eigentümer, des Kapitals. Alles andere ist unwichtig, hat sich unterzuordnen. Menschen sind dabei ein zu vernachlässigender Kostenfaktor und werden dementsprechend behandelt. Die Jarkata ist ein hochmodernes Schiff, aber für die Mannschaft gibt es nur zwei „Toiletten“, die Fäkalien machen das „Leben“ zur Hölle. Ohnehin steht fest, dass bei einer Reise zu den Gewürzhandelstätten allenfalls die Hälfte überleben wird. Francisco Pelsaert erhält den Auftrag, als Oberkaufmann in einer Rekordzeit von 120 Tagen nach Java und weiter nach Agra zu segeln, um Geschäfte mit einem Großmogul zu machen. Der Oberkaufmann ist der Vertreter der VOC an Bord und hat die absolute Befehlsgewalt, steht noch über dem Kapitän. Man vertraut Pelsaert für die Mission die unvorstellbare Summe von 300.000 Gulden an. Zu seinem Unmut wird ihm als Skipper der großmäulige, abgetakelte Trunkenbold Kapitän Arian Jacobs unterstellt und als Unterkaufmann der auf See unerfahrene Jeronimus Cornelius. Zu allem Überfluss hat auch Lucretia Hans nach dem Verlust ihrer drei Kinder auf Anweisung ihres Ehemanns, die Überfahrt nach Java gebucht, um neue Kinder zu zeugen, wie sie vermutet. Die Reise steht von Anfang an unter keinem guten Stern. Wegen eines Gewitters sticht man verfrüht in See. Häfen oder Anlegestellen zum Auffüllen von Proviant und Süßwasser sind wegen des engen Zeitplans nicht angedacht. An Deck herrscht eine gnadenlose Klassengesellschaft und ein strenges Regiment. Die Bounty erscheint dagegen wie ein Wellness-Kreuzfahrtschiff. Und so nehmen die Ereignisse ihren Lauf.

    Vielleicht abgesehen von Wiebke Hayes, einem Matrosen, sind die Verhaltensweisen der Protagonisten moralisch ambivalent. Sie bewegen sich in Grauzonen, tendieren mal zum Guten, mal zum Bösen, mal überwiegen skrupellose Eigeninteressen wie Habgier, Mordlust, manchmal überhöht durch religiöse oder quasi-religiöse Rechtfertigungen. Die Fragen, die sich fortlaufend stellen: wer behält die Oberhand? Wer überlebt die Fahrt? Welches Schicksal erwartet die Mannschaft? Das gleiche wie auf dem „Floß der Medusa“?



    Das Artwork hat alles gehalten, was ich erhofft und ein wenig auch erwartet hatte. Großartige Charakterdarstellungen und sehr schöne maritime Bilder.


    Abgerundet wird die VZA durch einen informativen Skizzenteil mit kurzen Beschreibungen der Hauptpersonen und jeweils einer Seite zur Entstehung der Storyboards, des Covers und einer Ortsbegehung der nachgebauten Batavia (https://de.wikipedia.org/wiki/Batavia_(Schiff,_1628) sowie dem obligatorischen Druck.


    Fazit: Von mir eine uneingeschränkte Empfehlung, selbst für die VZA.

    Geändert von Zardoz (12.07.2023 um 22:32 Uhr)

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