Sinaras Villa:
Eine in Zwielicht getauchte, nichtsdestotrotz aber in ihrer eleganten Gestaltung eindrucksvolle Eingangshalle hatte die Gruppe nach dem Transport willkommen geheißen. Zwar hatte niemand so richtig gewusst, welche Art von Ort sie erwarten würde, doch das altehrwürdige Herrenhaus, in welchem sie sich nun befanden, war eine angenehme Überraschung gewesen. Sie hatten sich unmittelbar vor der schweren, kunstvoll verzierten Eingangstür aus Merbau wiedergefunden, das Tafelparkett unter ihren Füßen war aus demselben Material gewesen. Einige Meter vor ihnen hatte eine breite Granittreppe ein paar Stufen hinauf auf eine Art Galerie geführt, von welcher aus sich die verschiedenen Flügel des Gebäudes erreichen ließen. Von der Hausherrin selbst hatte jede Spur gefehlt, doch Froze hatte erklärt, dass sie ohnehin alle erst einmal ausruhen konnten – schließlich hatten einige unter ihnen in den letzten 48 Stunden weder geschlafen noch gegessen – und sich dann anschließend besprechen würden. So hatte er sie über die Galerie in den westlichen Flügel des Hauses geführt. Auch hier war der Boden aus Parkett, überall an den Wänden hingen antike, gusseiserne Leuchter, die schummriges Fackellicht verbreiteten und die Fenster nach draußen, welche von schweren, samtenen Vorhängen gesäumt waren, gaben einen Blick auf einen in Nebel und Dunkelheit getauchten Garten frei, so dass man dessen Grenzen nicht ausmachen konnte.
Schließlich hatte Froze jeden von ihnen, nachdem er ihnen frei gestellt hatte, sich im Haus nach Belieben zu bewegen, in ein eigenes Zimmer geführt; insgesamt lagen ihre Räumlichkeiten auf zwei übereinander liegenden Ebenen, die durch eine Wendeltreppe miteinander verbunden waren. Auf den Zimmern hatte sie alle eine Schale mit Früchten und ein Brotkorb auf dem Tisch erwartet – Markus, Gabrielle und Amaryllis hatten außerdem einen Kelch mit frischem Blut vorgefunden. Am attraktivsten aber hatte den meisten von ihnen vor allem das breite, frisch gemachte Bett erschienen und so war ein jeder von ihnen nach einer etwaigen Stärkung in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen.
Als sie wieder erwachten, verriet ein Blick nach draußen ihnen, dass es noch immer Nacht war. Keiner war sich sicher, wie lang sie wohl geschlafen hatten – es konnte ebensogut bereits die nächste Nacht angebrochen sein ... oder war dies vielleicht ein Ort ewiger Nacht? Froze hatte mit keiner Silbe erwähnt, wohin er sie eigentlich gebracht hatte.
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Markus gingen noch immer die Antworten, die das Orakel ihnen gegeben hatte, durch den Kopf – und die tragische Rolle, die er selbst und die anderen Gefährten aus der Zeit der Nacht in diesem Spiel spielten, quälte den Vampir. Doch Gabrielle hatte Recht gehabt: es galt nun nach vorne zu blicken, das Orakel hatte ihnen den Weg gewiesen. Doch wie waren diese Weisungen zu deuten? Hatte die Priesterin wirklich auf ihn gezeigt? Und lag die Antwort, auf die Frage, wer „die Wurzel“ war, die das Orakel sie zu suchen geheißen hatte, wirklich so nahe, wie er glaubte?
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Lilly blickte aus dem Fenster in die sternenlose, neblige Nacht, die es nicht erlaubte, weiter als nur wenige Meter nach draußen zu sehen. Fast schien es, als läge dieses Haus einfach im Nichts, als habe die Vampirin sich ihren eigenen kleinen Ort erschaffen, fernab vom Rest der Welt. In ihrem Innern spürte sie abermals die Wärme des Feuerkeys, dessen Kraft ihr soviele neue Möglichkeiten eröffnete, wie sie in Griechenland festgestellt hatte.
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Christine strich sich gedankenverloren über die Stelle an ihrem Hals, an Markus Zähne sich in ihr Fleisch gebohrt hatten. Wie schon zuvor hatte auch diesmal die Magie der Rosen ihre Wunden geheilt und nicht einmal eine Narbe war zurückgeblieben – wenigstens keine äußerliche. Doch deswegen quälte sie das Erlebnis nicht minder. Vor allem aber waren ihre Gedanken bei der Vision, welche die Rose ihr gewährt hatte. Stranger hielt sein Versprechen ihr Gegenüber, als war es an ihr, auch dem Ihren nachzukommen.
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Lykahns Gedanken rasten, noch immer setzte die bittere Ironie des Schicksals, welche ihn ausgerechnet zu dieser Gruppe geführt hatte, zu. Für den Werwolf war es die Wahl zwischen Pest und Cholera gewesen und er hatte sich entschieden – nun aber, da er sich im Heim einer scheinbar überaus alten und mächtigen Vampirin befand, kamen abermals die Zweifel ...
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Gabrielle saß auf der Kante ihres Bettes, welches unberührt war – sie hatte auf dem Boden geschlafen, zu ungewohnt war die weiche Matratze für sie gewesen. Gleich zwei Rätsel hatten die Ereignisse im Orakel ihr aufgegeben: zum einen die Andeutungen Jakilannes, dass sie das Schwert führen sollte und deren eigenartiger Blick in Lillys Richtung und zum anderen die scheinbar zufällige Deutung der Priesterin in ihre Richtung, von der sie sich fragte, ob sie tatsächlich so zufällig gewesen war.
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Als Willow die Augen öffnete, fand sie sich in demselben weißen Raum wieder, in den Quicksilver sie schon einmal versetzt hatte und trug abermals nichts als das dunkelgrüne Kleid. Der Telepath war zusammen mit Froze auf ihr Zimmer gekommen, nachdem sie ausgeschlafen gehabt hatte – sie alle drei hatten zuvor bereits besprochen, dass sie einen weiteren Versuch unternehmen würden, ihre Erinnerungen zu reparieren und Froze hatte auf ihre Bitte hin versprochen, sie auf die Astralebene zu begleiten – ein Umstand der auch Quicksilver entgegen gekommen war, denn die Unterstützung des Empathen würde sehr hilfreich sein.
Als Willow aufsah entdeckte sie auch die beiden anderen: Quicksilvers etwas jüngeres und gesünder wirkendes Astralbild kannte sie bereits, Frozes astrales Selbst aber bot einen auf den ersten Blick ungewohnten Anblick. Schon als er das Zimmer betreten hatte, hatte es sie einen Moment lang irritiert, dass er nicht in Schwarz getaucht war wie noch in Griechenland, doch schließlich hatte sie den blonden jungen Mann, der sich unter der Dunkelheit verbarg, auch bereits in ihrer Vision in London erblickt. Auf der Astralebene aber wirkte er dennoch noch einmal verschieden; sein Haar war deutlich kürzer und sein Gesicht wirkte zwar nicht jünger aber weniger „gezeichnet“. Zudem trug er eine Tunika aus beigem Leinen. Vor allem aber seine Augen waren der Grund für die veränderte Ausstrahlung: sie waren nicht bernsteinfarben wie in Wirklichkeit, sondern schimmerten blaugrün wie das Meer.
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Kaz hatte zu seinem Erstaunen festgestellt, dass das Bett ihn tatsächlich aushielt, nachdem er sich zunächst eher misstrauisch und überaus vorsichtig darauf gesetzt und sich schließlich hingelegt hatte. Nun aber, nachdem er ein wenig geschlafen hatte, wurde ihm langsam aber sicher bewusst, in welch eigenartige, ja regelrecht bizarre Situation er sich begeben hatte: er war nun in Gesellschaft derer, die für die aktuelle Krise verantwortlich waren, doch sie waren gleichzeitig auch diejenigen, die Martok Einhalt geboten hatten. Nichtsdestotrotz paktierten sie mit dessen Schwester und auch er selbst würde sie wohl bald kennen lernen. All das hätte er sich, als er vor einigen Tagen von seinem Stamm losgezogen war, nicht auch nur im Ansatz träumen lassen.
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Khamira fand sich irgendwo zwischen Lethargie und Ratlosigkeit. Seit sie von Mitgliedern des Ordens konsultiert worden war, war sie sich ihrer eigenen Bedeutung für die aktuellen Ereignisse nie wirklich klar gewesen – sie fühlte sich wie ein Anhängsel und vor allem seit Slashblade in der Abbey umgekommen war, fehlte ihr ein wirklicher Bezug zu den anderen. So gerne hätte sie ihre Fragen im Orakel für andere Dinge genutzt, doch letztendlich war ihr klar gewesen, wie egoistisch dies gewesen wäre. Doch wie sollte es nun für sie weitergehen? War dies ihr Weg? All dies schien eine Nummer zu groß für die junge Elfe.
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Auch Amaryllis haderte mit der aktuellen Situation: bereits zum zweiten mal innerhalb weniger Stunden war sie in die Behausung eines höheren Wesens gebracht worden, welches sie zum Teil seiner Pläne machen wollte. Doch nach wie vor hatte die Ägypterin nicht vor, sich irgendjemandem unterzuordnen. Sie verfolgte ihre eigenen Ziele und dass sich diese derzeit zumindest zu großen Teilen mit denen der anderen deckten, war der einzige Grund für ihr Bleiben – sie wusste, dass Verbündete unter Umständen wertvoll sein konnten.
Ihr Blick fiel auf den Ring an ihrem Finger. Er hatte seine Schuldigkeit getan und zusammen mit dem anderen Talisman das Tempeltor geöffnet. Doch Amaryllis spürte, dass seine Magie größer war als das. Welche Geheimnisse er wohl noch bergen mochte?
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Ebenso wie die Schamanin, so beschäftigte sich auch Charlene mit dem magischen Schmuckstück, zu dessen Trägerin sie offenbar erwählt worden war. Seit sie es trug, war es ihr möglich mit dem anderen in ihr, Carlos, zu kommunizieren. Sie beide verstanden noch immer nicht so recht, wie es möglich war, dass sie sich nur eine Existenz teilten und was der Orden wohl mit ihnen angestellt hatte. Doch sie begannen es langsam zu akzeptieren. Solange sie das Collier trug, das spürte Charlene, würde sie diejenige sein, die die Kontrolle hatte.
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